Phnom Penh - "Tuol Sleng" oder "S 21"

Nach dem beschaulichen Kampot ist Phnom Penh ein Schock. Zu laut, zu viel, zu voll.

 

Die Stadt fühlt sich trotz großzügig angelegter Plätze und dem breiten Mekong eng und erdrückend an. Dieser mächtige Fluss kann trotz seiner Größe und Weite keine Entspannung bringen. Statt dessen wirkt es viel mehr so, als würde die Stadt so stark gegen die Ufer drücken, dass sie irgendwann überfließt und sich in den Mekong ergießt.

Auch in diesem Wirrwarr an Eindrücken, Geräuschen und Menschenmassen finden wir ruhige und erholsame Plätze, aber sie lassen sich diesmal an einer Hand abzählen.

 

 

Hier steht für mich nun auch die direkte Auseinandersetzung mit Kambodschas jüngster Geschichte an. Obwohl uns auf unserer Reise schon mehrfach Killing Fields und Killing Caves begegnet sind, haben wir sie doch bisher nicht besucht. Die bloße Vorstellung und die Reportagen über die begangenen Grausamkeiten reichen mir oftmals, um mir das Ausmaß und das Leid vor Augen zu führen, das den Menschen angetan wurde.

 

In Phnom Penh besuche ich das ehemalige Folter-Gefängnis „S 21“, auch „Tuol Sleng“, benannt nach der benachbarten Grundschule, die es hier vor der Schreckensherrschaft der Roten Khmer gab. Ursprünglich war der Gebäude-Komplex ein Gymnasium, das nach der Machtübernahme und der Entvölkerung Phnom Penhs umfunktioniert wurde.

Es gab viele solcher Gefängnisse im ganzen Land, doch Tuol Sleng war das berüchtigtste.

 

Geführt wurde dieses Gefängnis ironischerweise von einem ehemaligen Lehrer. Auch andere ehemalige Beamte und Lehrer taten dort ihren Dienst als Wärter, Verhörpersonal oder Folterknecht, sorgten sie doch für Ordnung, Struktur und ein gewissenhaftes Vorgehen. Die "Arbeitsschritte" wurden aufgeteilt, damit sich kein persönlicher Kontakt zu den Inhaftierten aufbauen konnte. Alles wurde genau dokumentiert und festgehalten.

 

Inhaftiert wurden dort vermeintliche Staatsfeinde mitsamt ihren Familien. Die Inhaftierten wurden oft über Wochen und Monate systematisch und nach Plan gefoltert, um Geständnisse und Informationen über weitere „Feinde“ zu erpressen. Die gesamte Familie wurde verhaftet und getötet, um spätere Racheakte zu vermeiden. Keiner, der je in „S 21“ eingeliefert wurde, überlebte. Waren die Handlanger des Regimes mit den Gefangenen fertig, wurden sie zu den Killing Fields vor den Toren der ausgestorbenen Stadt gebracht und dort getötet. Um Munition zu sparen, wurden viele erschlagen oder mit dem Messer erstochen.

Auch Kinder waren kurzzeitig im Gefängnis, auch sie wurden getötet auf den Killing Fields. Dort steht ein großer Baum, der Killing Tree, an den die Babys und Kleinkinder mit den Köpfen geschmettert wurden.

 

Als das Gefängnis von der vietnamesischen Armee befreit wurde, konnten nur vierzehn lebende Häftlinge gerettet werden, alle anderen waren getötet worden. Weitere starben kurze Zeit später.

 

Es gab nur sieben Überlebende, darunter auch Kinder.

 

 

Die Gebäude wurden für ihren neuen Zweck angepasst. Zum Beispiel wurden die Fenster der unteren Räume verschlossen, weil sie zur Folter vorgesehen waren und die Schmerzensschreie nicht zu den anderen Häftlingen durchdringen sollten. Auch wurden die Gebäude von außen vergittert und mit Stacheldraht umzäunt, damit keiner der Insassen Selbstmord begehen konnte. Einigen gelang es trotzdem, aber nur wenigen. Auch bei der Folter starben einige, was allerdings nicht vorgesehen war, sollten die Geständnisse doch ordnungsgemäß beendet werden, um mit ihrer Hilfe weitere Menschen zu inhaftieren. War einem Folterer sein Opfer verstorben, bevor die Geständnisse wunschgemäß waren, wurde er wohl selbst hingerichtet.

 

Die Gefängniszellen - für die wichtigeren Häftlinge, die anderen lagen aneinander gekettet in den Schulräumen - waren winzig. Dort warteten alle, bis sie wieder an der Reihe waren für das nächste Verhör, für die nächste Folter.

Die Gefangenen hatten sich an klare Regeln zu halten. Befolgten sie diese nicht, wurden sie zusätzlichen Quälereien wie Elektroschocks oder Peitschenhieben ausgesetzt.

 

Die Kletterstangen, die im Schulhof stehen und ursprünglich von den Schülern zum Spielen und Klettern genutzt wurden, dienten nun als Folterinstrumente. Dort wurden Menschen an den Armen oder Füßen aufgehängt, Waterboarding war schon damals eine gebräuchliche Art und Weise der Quälerei. Die Behälter, in denen sich Wasser oder auch Fäkalien befanden, um die Opfer einzutauchen, stehen noch dort.

 

In den Folterräumen stehen immer noch die Metallbetten, an die die Gefangenen gekettet wurden. An den Wänden sieht man immer noch Blutspritzer. Und es hängen die Bilder der Opfer an den Wänden, die die vietnamesische Armee tot und an die Betten gefesselt fand, als sie Tuol Sleng befreiten.

 

In anderen Schulräumen sind Bilder der vielen Opfer ausgestellt, die alle registriert, fotografiert und nummeriert wurden.

Die vielen Gesichter, die mich von den Stellwänden anschauen, treffen bis ins Mark. Männer, Frauen und Kinder, viele von ihnen angstvoll, andere mit gebrochenem Blick, wenige trotzig und manche mit Verletzungen im Gesicht.

 

Die Geschichten einige Schicksale werden erzählt.

Zum Beispiel die von Hout Bophana, einer sehr hübschen jungen Frau, die in Tuol Sleng über Monate gefoltert wurde und schließlich auf den Killing Fields ihr Ende fand. Am gleichen Tag wie auch ihr Mann, Ly Sita, ein Soldat der Roten Khmer.

Ihr Hauptverbrechen bestand darin, sich zu lieben und sich gegenseitig Briefe zu schreiben, die schließlich entdeckt wurden und zu ihrer Verhaftung führten. Beide waren gebildet und belesen, sie sprachen mehrere Sprachen. Ihre Texte sind voller Zuneigung, Offenheit und Tragik, gespickt mit Anspielungen auf Romanfiguren und Zitaten bekannter literarischer Werke. Zu viel Bildung und Gefühl für ein Regime wie das der Roten Khmer.

 

Ihr Foto hängt zwischen vielen anderen. Und trotzdem nimmt ihr Blick mich gefangen, ihre Klarheit, ihr Schmerz, aber sie wirkt ungebrochen und ohne Angst. Stolz und stark, obwohl sie zu wissen scheint, dass es keinen Ausweg gibt.

 

Auch Künstler gehörten zu den Insassen. Mehrere Gemälde von Vann Nath finden sich im Museum, auf denen er verschiedene Szenen des grausamen Alltags festgehalten hat.

Auch er wurde damals von den Roten Khmer verhaftet und gefoltert. Er blieb nur deshalb am Leben, weil seine künstlerischen Fähigkeiten für das Regime von Nutzen waren. Pol Pot-Porträts musste er malen, die in großen Mengen zum Aufhängen in Parteibüros und öffentlichen Gebäuden benötigt wurden. Seine Frau und er überlebten, ihre beiden Söhne fielen dem Regime zum Opfer.

 

Sehr berührt hat mich die Geschichte eines Mannes, der als kleiner Junge mit seiner Mutter inhaftiert wurde. Der Tag, an dem sie das Gefängnis betraten, war der letzte an dem er sie lebend gesehen hat. Er wurde von den vietnamesischen Armee befreit, riss sich los und lief durch das ganze Gebäude, er suchte verzweifelt nach seiner Mutter. Statt ihr fand er die letzten Folteropfer, die tot in den Kammern zurück gelassen wurden. Seine Mutter fand er nicht.

 

So viele Geschichten, so viele Leben, die hier und auf den Killing Fields im ganzen Land ihr Ende fanden.

 

 

 

An diesem Ort zu sein und um das Ausmaß all dieses Leids zu wissen, das hier systematisch produziert wurde, treibt mir immer wieder die Tränen in die Augen. Auch anderen Besuchern geht es so. Immer wieder sitzt jemand auf einer Bank auf dem ehemaligen Schulhof und kämpft mit diesen Grausamkeiten.

 

Und natürlich ist mir die deutsche Geschichte mit all ihrem Elend, ihrem Quälen und Morden in diesem Moment wieder sehr präsent. Vieles erinnert mich an die Geschichte Nazi-Deutschlands, auch die Akribie, mit der das Foltern und Töten organisiert war.

 

 

 

Hier im ehemaligen Gefängnis sieht man einen kleinen Teil der getöteten Opfer der Roten Khmer, aber das Elend wirkt nach wie vor in der Gesellschaft nach. Opfer gibt es noch zuhauf.

 

Seit ich in Kambodscha bin, versuche ich zu verstehen, was hier passiert ist. Wieso sich der ganze Hass, die ganze Energie gegen das eigene Volk richtete, nicht gegen einen Feind von außen. Und es dauert eine Weile, bis ich verstehe, dass der gebildete Mensch der größte Feind eines solchen – und vielleicht auch jedes anderen - Regimes ist.

 

Die „alten“ Menschen, die Basis-Menschen waren nach Ansicht der Roten Khmer die Bauern, die durch ehrliche Arbeit und einem einfachen Leben ihrem Idealbild der neuen Gesellschaft sehr nahe kamen.

Die „Stadtmenschen“, die gleich zu Beginn der Schreckensherrschaft aus den Städten vertrieben und aufs Land gezwungen wurden, waren die „neuen“ Menschen, die von vorne herein als Feinde betrachtet wurden. Sie bekamen die kleinsten Essensrationen und lebten immer in der Gefahr, verhaftet oder getötet zu werden.

Sie hatten mit den drastischen Veränderungen am meisten zu kämpfen. Viele von ihnen waren schon auf den Märschen aus den Städten aufs Land krank geworden oder gestorben. Die schlechte Versorgung und die ungewohnte körperliche Arbeit setzten ihnen zusätzlich zu. Wer krank wurde, bekam kein Essen mehr. Eine medizinische Versorgung gab es kaum, weil westliche Medizin - zumindest für die Bevölkerung - abgelehnt wurde.

 

Auch Bildung war lebensgefährlich. Nach der Machtübernahme der Roten Khmer wurden alle Schulen, Universitäten und Tempel geschlossen. Jeder, der sein Studium erwähnte, verschwand und kam nie wieder. Wer Fremdsprachen sprach, selbst wer eine Brille trug, war stark gefährdet. Die Menschen lernten schnell, dass sie sich dumm stellen mussten, wenn sie leben wollten. Wer dies nicht lernte, starb.

 

Das Regime hatte zum Ziel, alle familiären Verbindungen zu zerstören und „Angkar“, die Organisation, als Familienersatz zu etablieren. Kinder wurden mit sieben Jahren aus den Familien genommen und in Erziehungsanstalten gebracht, um sie nach dem Bild der Roten Khmer zu formen.

 

Frauen und Männer wurden in großem Stil zwangsverheiratet. Sie wurden einander einfach zugeteilt mit dem Auftrag, sich zu vermehren. Weigerten sie sich, „die Ehe zu vollziehen“ und dem Demokratischen Kampuchea Kinder zu schenken, riskierten sie, verhaftet oder getötet zu werden.

 

Nach wie vor ist die Scheidung in Kambodscha nicht üblich. Unter 3% der verheirateten Paare trennen sich wieder, was bedeutet, dass viele dieser Zwangsehen nach wie vor Bestand haben. Auch das hat gravierende Auswirkungen auf den Familienzusammenhalt, auf die Beziehungen, auf die Erziehung der Kinder. All das musste und muss erst wieder wachsen.

 

 

 

Und Pol Pot, der Schöpfer all dieses Wahnsinns?

Er wurde nie zur Rechenschaft gezogen, hat sein Leben weiter gelebt und war lange Zeit weiterhin einflussreich, wenn sich sein Gebiet auch verkleinert hatte.

 

1994 ließ er wohl drei junge westliche Backpacker hinrichten, die bei einem Zugüberfall verschleppt worden waren. Die Regierung hatte kein akzeptables Angebot gemacht.

Nachdem er 1997 als letzten Hinrichtungsbefehl einen seiner engsten Vertrauten töten ließ, wurde er von seinem wichtigsten Militärkommandanten festgenommen und zu lebenslänglichem Hausarrest verurteilt.

1998 starb er schließlich. Unbehelligt.

 

1986 wurde er noch Vater, seine Tochter ist heute 31 Jahre alt. Und ich frage mich, wie sie wohl lebt mit dem Wissen, dass ihr Vater ein Massenmörder war, der ein ganzes Land an den Rande der Zerstörung geführt hat.

 

 

 

Wie einfach es doch ist, mit Hilfe eines vermeintlichen Feindes, sei er nun anderer Religion, anderer Hautfarbe, anderen Geschlechts oder anderer Bildung, einen Wahnsinn loszutreten, der so viele Opfer und Täter produziert.

 

Immer wieder wiederholt sich die gleiche Geschichte in unterschiedlichen Dimensionen, an verschiedenen Orten der Welt, mit unterschiedlichen Feindesbildern. Und doch, dass Diskriminieren und Entrechten, das Foltern und Töten, das Entmenschlichen und das „Säubern“ ist immer Teil dieses Elends, Teil der sich weiter drehenden Spirale.

 

Ich frage mich, ob wir irgendwann in der Lage sein werden, diesen Irrsinn zu beenden.

Derzeit sieht die Welt nicht danach aus.

 



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